In der Karwoche steht in unseren drei Kirchen Sirnach, Eschlikon und Münchwilen eine Klagemauer. Über vieles können wir in diesen Tagen und Wochen klagen. Es belastet und bedrückt uns ganz unterschiedliches. Die einen haben in Familie und Freundeskreis Schweres zu tragen, andere müssen in der Schule oder im Beruf Schwierigkeiten und Belastungen bestehen. Und die allgemeine Stimmung in der Welt trägt das Ihre zu einer Stimmung bei, die uns zum Klagen führt. Dem Schweren, dem Unabänderlichen, der Enttäuschung und Wut möchten wir eine bestimmte Gestalt geben. Wir laden alle Interessierten ein, ihre Klage auf einen Zettel zu schreiben und in die Ritzen der Klagemauer zu stecken. Das Klagen hat eine lange biblische Tradition. Wir erinnern an die Klagen eines Propheten Jeremia, der sich mit scharfen, harten Worten seinen Schmerz und seine Enttäuschung aus der Seele schreit. Immer wieder klagen die Israeliten über ihre Not, sei es in Ägypten als Sklaven, sei es auf der Wanderung durch die Wüste, wo sie zu verhungern und zu verdursten drohen. Es ist Gott, der die Klagen seines Volkes hört. Oder die letzten Worte Jesu am Kreuz: «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Der Anfang von Psalm 22. In dieser Tradition steht unsere Klagemauer. Während der Feier der Osternacht werden wir die Klagezettel im Osterfeuer verbrennen. Damit bringen wir unseren Glauben zum Ausdruck, dass Gott uns hört und uns wandelt. Wir werden buchstäblich entlastet durch das Aufschreiben unserer Klage.

Die Bedeutung der Karwoche für unser Leben

Die Woche vom Palmsonntag bis Ostersonntag ist eine besondere Woche. Wir denken an das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu. Diese Ereignisse im Leben Jesu werden mit besonderen Festtagen begangen. Dabei geht es nicht um eine Erinnerung an ein längst vergangenes Ereignis vor 2000 Jahren. Was wir feiern, hat mit unserem eigenen Leben und mit unserer heutigen Welt einiges zu tun. Wir können von diesen Ereignissen im Leben Jesu für unser eigenes Leben etwas mitnehmen.

Die Karwoche hat ihren Namen vom althochdeutschen Wort kara, das heisst so viel wie Trauer, Klage. Das Leiden Jesu gibt der ganzen Woche ihren Namen. Die einzelnen Festtage beleuchten bestimmte Aspekte der Beziehung zu Jesus und Seiten des Lebens.

Palmsonntag, Einzug Jesu in Jerusalem und die Frage: wer ist Jesus für mich? Mit dem Palmsonntag eröffnen wir die Karwoche. Wir erinnern an den Einzug Jesu in Jerusalem. Bei uns pflegen wir den schönen Brauch, Palmsträusse zu segnen und zu verteilen. Sie machen uns bewusst, dass das Leben letztlich stärker ist als all die Mächte des Todes. Die Leute jubeln Jesus zu und erwarten den Erlöser. Gewissen Leuten dürfte der Jubel um Jesus Kopfschütteln ausgelöst haben. Sie sahen in Jesus einen Gotteslästerer. Andere dürften Jesus eher gleichgültig begegnet sein. Die Frage an uns: wer ist Jesus für mich heute? Der Palmsonntag zeigt auf, wie Menschen beeinflusst werden können. Diejenigen, die ihm zugejubelt haben, verlangen einige Tage später lauthals seinen Tod am Kreuz…

Hoher Donnerstag, das letzte Abendmahl und Ringen mit dem Schicksal. Am Hohen Donnerstag steht das jüdische Paschamahl und das letzte Zusammensein Jesu mit seinen Freunden im Zentrum. Das jüdische Paschafest erinnert an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens. Einerseits wissen wir uns im gemeinsamen Feiern miteinander verbunden. Christliches Feiern ist ein Feiern in Gemeinschaft. Gleichzeitig wird uns durch die Hostie und den Kelch vermittelt, dass Jesus wirklich gegenwärtig ist. Er kommt in unseren Körper und will uns von innen her wandeln. Das Thema der Befreiung klingt ebenfalls an. Jesus will die Fesseln lösen, die uns unfrei machen und einengen. Nachdem Jesus mit seinen Freunden das letzte Abendmahl gefeiert hat, geht er mit ihnen hinaus und ringt damit, dass er gekreuzigt werden könnte. Jesus erscheint uns als normaler Mensch, der Angst hat und um eine Entscheidung ringt. Jesus kennt also all die Nöte, Ängste und Schwierigkeiten bei Entscheidungen.

Karfreitag, das Leiden und der Tod Jesu. An diesem Tag steht das Leiden und der Tod Jesu im Zentrum. Die verschiedenen Personen, welche in der Leidensgeschichte vorkommen, beleuchten einige Aspekte, wie wir selber fühlen und uns verhalten. Ich erinnere an einen Apostel Petrus. Er verleugnet seine Zugehörigkeit zu den Jüngern Jesu. Oder Pontius Pilatus. Er ist von der Unschuld Jesu überzeugt, verurteilt aber trotzdem Jesus zum Tod. Er will es ja nicht mit den einflussreichen Juden verscherzen und einen Aufstand dieser Leute provozieren. In unseren Kirchen gibt es den Kreuzweg, die Stationen des Leidens und Sterbens Jesu. Dieser Kreuzweg lädt zum Betrachten des Leidensweges Jesu ein. Leider ist der Karfreitag vielerorts bittere Realität, wenn wir an Krieg, Gewalt, Terror und Missbrauch denken.

Wir betrachten diese dunklen Seiten des Lebens, weil wir glauben: der Tod ist nicht das letzte. Leiden und Not haben ein Ende. Das letzte ist das Leben. Der Tod wandelt sich in Leben. Gott hat Jesus auferweckt, er lebt. Das letzte ist das Leben, Ostern.

Pfr. Raimund Obrist